Im Heißluftbad - Expertendialog
© denkotainment 2005, Heiner Koese

...wissen Sie, was sie mit ihm gemacht haben, als sie seiner habhaft wurden? Sie haben ihm die Schnauze schief getreten! Zugegeben, er sieht auch nicht sehr apart aus. Seine Haare sind nicht messerkurz, sondern lang wie unterernährte Schlangen, und so hängen sie auch von seinem Baum und schreien mit dem Wind, wenn er mit seinem Fahrrad in der Innenstadt Patrouille fährt. Seine Zähne sind nikotingelb und an einigen Stellen sehr gefährdet. Er spricht in reduzierter Geschwindigkeit und hat als Snack immer Medikamente in der Tasche. Manchmal schmecken sie ihm, manchmal nicht. In der Klinik gibt es Bananen, viel Bananen und Frugales und dort wird sehr viel geschrieen. Es hallt über die Flure, fortwährend. Schrille Schreie, dumpfe Schreie, Ordnungsrufe, aufgeregte und hysterische Töne - die Tonleiter wird in Gänze bedient. Die Lazarettbetten mit Metallgestänge aus dem 19. Jahrhundert sind mit dunkelblauen Wolldecken überhangen und die Drei- bis Vier-Personen-Kammern entlang der lichtlosen Flure sind ohne fröhliche Requisiten.
Sein Charakter war einwandfrei, ja wären da nicht..., wären da nicht diese verdammten Aussetzer gewesen, er hätte zuhause dauerhaft unbehelligt bleiben können. Seine Aussetzer dokumentieren die Schieflage in ihm selbst. Sie schlagen um in Gewalt, von der er später nichts mehr weiß.

Was ließe sich denn für ihn anbringen?

Vielleicht, dass er sich selbst für einen eiskalten Realisten hält, und das mit unbeirrbarer Vehemenz. Es ist nicht viel! Aber vielleicht noch, dass er irgendwie bescheiden ist. Zwei Flaschen Bier pro Abend auf seinem Balkon sind auch nicht übermäßig auffällig in Anbetracht seines tiefen Energie fressenden gedanklichen Dauerfeuers. Auch schreibt er, schreibt nach außen als wirr kenntliche Texte, rein fragmental, alles auf ungehörigen und verklebten Zetteln postiert, so wie bei Universalgenies, die durch ihre täglichen Erkundungen alles schriftlich registrieren können und in der entsprechenden Situation sofort auf dem schnellst nur Greifbaren niederschreiben und festhalten müssen, damit es nicht für immer unbehandelt und ohne Analyse verpufft. Denn nur auf diese Weise lässt sich ja eine spätere, genaueste Verwendung und Überprüfung gewährleisten, ähnlich eines Komponisten, der sich zwecks genialer Einfälle zwingt, seine Nachtruhe zu unterbrechen, um die neuesten akustischen Preziosen festzuhalten, bevor sie als schöner Traum im kraftlosen Halbschlaf unwiderruflich und für immer entgleiten.

Sie meinen, gewissermaßen geordnetes Chaos? Jawohl, richtig - so wird es wohl sein.

Gibt es ein spiegelbildliches Regulativ für Schwachsinn? Ich meine eine Art Ausgleich auf der anderen Seite, welcher möglicherweise in der der Wichtigen gegenüberliegenden Hirnhälfte ansässig ist, die mit gewissen Merkmalen genau den Ausgleich schafft für das, was in der einen Hälfte an Mangel vorherrscht. Damit meine ich nicht zwingend nur pathologische Umstände, sondern auch banale Defizite wie Konzentrationsschwächen, simplen Geiz oder übertriebene Neugier, oder umgekehrt: wie z.B. bei Extremgedächtnissen, also bei Leuten, die niemals auch nur irgendetwas vergessen, alles auf einer organischen Platine speichern und stets vollständig aus allen je gelesenen Büchern beliebig zitieren können, aber dafür im sozialen Leben handlungsunfähig sind und sich ohne Hilfe eines äußerst Wohlgesonnenen niemals allein anziehen könnten?

Was meinen sie genau, ich verstehe sie nicht?

Ich meine, auf unseren ´Vorgang´ bezogen, dass jemand der von administrativer Stelle als debil oder schwachsinnig eingestuft wird inklusive der dazu gehörigen Zwangsmaßnahmen, ja dass ein Solcher sich im Nachhinein zu gewissen Teilen seines Gesamtspektrums als hoch qualifiziert erweist, versehen mit den edelsten Talenten und Fertigkeiten aber eben nicht auf der herkömmlichen Seite.

Das könnte man im Zweifel nicht ungeprüft lassen!

Nein hören Sie, ich rede von all den Fällen der weg gesperrten Schizophrenen oder vermeintlich Schizophrenen der Akademien oder der Anstalten, namentlich von denen, bei denen vermutlich zu einem gewissen Grad von unberücksichtigter, roher Genialität ausgegangen werden kann, weil Sie - nur sie - eben nicht herkömmliche Denkmuster kultivieren oder sie vielmehr die einzigen neuronalen Grenzüberschreiter sind und es eben nicht in den langjährig tradierten Sozialisationsmusterkonsens passt, und man mindestens bei fairer intensiver Behandlungsweise eben Solcher eine kurative Hochquote erreichen könnte, also bessere Heilung, wenn man sich sachgerechter mit ihnen beschäftigen würde, wenn es diese, unsere, sehr schnelle, reaktive Gesellschaft denn hergeben würde. Können Sie mir folgen?

Sehr mühsam! Aber gut, ich versuche, einmal zu rekapitulieren: Sie meinen also, dass es bei den genannten Laboranten einen Restbestand brauchbarer Fähigkeiten gibt und sie gehen sogar erweiternd davon aus, dass das Stichwort: „unerkannte oder ignorierte Teilgenialität" gerade deswegen auf der einen Seite angebracht ist, es sich sogar bedingt, weil es auf der anderen Seite erhebliche Defizite gibt, die in unserem funktionellen Gesellschaftssystem Störungen verursachen und es wahrscheinlich, weil viele es nicht mögen oder verkraften können, simple Ablehnung der gemeinen Straße verursacht...

...was ich eigentlich damit sagen wollte, war, dass man diese Gestrauchelten viel zu rapid als unpassend qualifiziert, obwohl es einer genaueren Prüfung unter nicht ritualisierten Vorzeichen nicht standhielte.

Ah, ja, ich verstehe nun etwas besser, aber wie sie wissen, war eine Menge Gewalt im Spiel, als unser `Fall´ neandertalesk über die Frau herfiel, sie beschimpfte und mit gewaltigen Fausthieben ihr sehenswertes Antlitz traktierte...

...gewiss, und jederzeit, ohne es je zu rechtfertigen: Gewalt ist nie billig, aber differenzierend betrachtet, in einem Ausmaß, wie es nur äußerst Verständige vermögen, sollte man berücksichtigen: es war die Gewalt eines Verzweifelten, dass sollte man sehen. Diese Form der Gewalt hat ja einen direkten Auslöser, der früh entstand und sich bis zur Entladung auftürmte, möglicherweise sogar hervorgerufen durch das Kollektiv, was ihm nun erneut unversöhnlich entgegentritt. Subtrahiert man diesen Gewaltexzess nun vom Gesamtgeschehen ergibt sich eine bereinigte Summe der Auffälligkeiten, die man nur noch als „leichte Auffälligkeiten" bezeichnen kann, nicht mehr als schwere, dann bliebe nur noch die blanke Schizophrenie als solche. Und das soll dann heißen, dass die Schizophrenie für sich stehend untersucht werden muss, mit all den Fragwürdigkeiten und Zweifeln, die Gelehrte seither daran haben. Stellen sie sich also einmal vor, menschliches Verhalten an sich hat keinen neutralen, objektiven Bewertungsmaßstab, weil ja jeder Einzelne sein eigenes Tun - und sei es für den Betrachter auch noch so fragwürdig - jederzeit als rein und „im Spektrum" bezeichnen würde und immer nur „die Anderen", die abstrakten Anderen „die Fragwürdigen" sind, dann lässt sich doch allein aus diesem Umstand schon ersehen, dass niemand „im Recht" ist und auch nicht sein kann, weil sein Recht, sich ja gleichzeitig aus den „unglaublichen Fragwürdigkeiten der anderen speist wie es auch von „deren" Tun ebenso deutlich abgegrenzt wird. Man müsste fairer Weise zudem feststellen, von wem - gemäß unseres lange gültigen Normenkonsens - überhaupt der größere Schaden ausgeht. Von einem irregeleiteten Kollektiv, was ausreichend und über Gebühr Mittel gefunden hat, sich selber sukzessive und für alle Zeiten zu vernichten, oder von einer Handvoll Sedierter und Weggesperrter,
die von der Schöpfung unter Umständen einmal dazu gedacht waren, große Wegweiser und Charismatiker zu werden, aber es von ihrer Merkmalspalette nie zum ganz großen Durchbruch kommen konnte, weil stets eine kleine Nuance hinsichtlich der Gesamtreichweite fehlte und sie in Gänze zu schwach waren, der massierten Gewalt des Kollektivs sachgerecht entgegen zu treten, ohne sich zusätzlich des Gespöttes sicher sein zu dürfen.

Anschließende typisierte Entwicklungen derer sind ja hinreichend bekannt: Man verzweifelt gewissermaßen am Leben, weil man zu keiner Zeit durchschlagend durch das hauchdünne Pergament stoßen konnte; weil die inneren Antriebskräfte messerscharf nur bis kurz vor das Pergament gereicht haben, durch das man nunmehr zwar deutlich durchsah und den zu beschreitenden Raum genau erkannte, aber tragischerweise die Schubkraft von hinten nicht reichte, das Pergament endgültig zu durchstoßen, sei es auch noch so knapp; man also nur knapp gescheitert ist, aber immerhin gescheitert; man in der Folge die Sinnlosigkeit des weiteren Vordrückens erkannt hat und sich dann wieder in die andere Richtung, also auf die Seite der Entrückungen zurück bewegt.

So wie es auch bei unserem Langhaarigen gewesen sein könnte. Er sah durch sein Pergament mitten in die schemenhaft-wahrscheinliche Schönheit und konnte sich diesen Verlust, der für immer sein sollte, nur noch etwa durch Opiate oder Sonstiges erhalten und scheiterte somit für andere erkenntlich im Hier und Jetzt, weil er scheitern musste.

Und nun patroulliert er weiter einsam mit seinem Fahrrad durch die Stadt, wie er eben Ausgang erhält und seine psychopharmakologischen Auflagen erfüllen muss, eil die weil er einen riesenhaften Schädel von den Medikamenten bekommt und sein Körper weiter aufgeschwemmt wird, ohne dass dies jedoch irgendwelchen nennenswerten lukullischen Gelüsten entsprang, sondern vielmehr der Zwangsportionierung. Jeder, der ihn sieht, sieht in ein absonderliches Wesen, welches eine sofortige sträfliche Distanz wert ist, um sich selbst ein kleines Stückchen Würde zu erringen, während man ungebrochen den eigenen zivilisatorischen Süchten frönt.